Die andere Seite des Lebens.
In der Gesellschaft in der ich aufgewachsen bin, wurde uns beigebracht, uns vor den Toten zu fürchten und Angst zu haben. Sie sind unheimlich und böse. Alle Märchen wurden nur so beschrieben. Wir wurden von den Toten eingeschüchtert. Sie würden zu uns kommen und unsere Seelen essen. Das Bild der Welt ist gruselig und schrecklich. Ich weiß nicht, wie es wirklich ist. Das kennt wahrscheinlich Niemand auf dieser Seite des Lebens. Ich kann nur meine Erfahrungen teilen, die ich erhalten sollte. Ich war noch ein kleines Kind. Mein erstes bewusstes Treffen mit den Toten fand bei der Beerdigung meines Urgroßvaters Anton statt. Ich kannte ihn nicht gut. Er wohnte in einer nahegelegenen Straße von meinem Opa und meiner Oma entfernt, wo ich oft den Sommer verbrachte. Ich ging um Birnen zu holen zu ihm. Die Birne Bera war sehr lecker bei ihm. Ich denke, er machte Likör aus Birnen. Er war der einzige den ich kannte, der wusste, wie man Apfelwein macht. Er baute auch Trauben an. Großvater machte aus Trauben Wein. Er hatte im Keller Fässer und Flaschen und Gläser und sie alle sprudelten. Ich glaube er machte aus allem Wein. Er schenkte mir einen kleinen rostigen Hammer mit einem Nagelzieher. Das war mir eine riesige Freude. Damit durfte ich helfen Opas Zaun zu reparieren. Ich habe ihn nicht oft gesehen. Ein paar mal. Ich erinnere mich an ihm bei den Familienfeiern. Er zwickte mich immer an den Seiten. Das haben alle Erwachsenen so gemacht. An das Leben und Schicksal von Großvater Anton kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Aber ich erinnere mich noch an sein faltiges Gesicht und konnte ihn auf dem Foto erkennen. Und eines Tages ging ich mit meiner Mutter zu seiner Beerdigung. Er wurde von der ganzen Dorfgemeinschaft beerdigt. Ich erinnere mich an viele Leute. Alle kamen ins Haus und verabschiedeten sich von ihm. Wir gingen auch hinein. Als wir das Haus betraten wurde mir schlecht. Mir wurde schlecht und schwindelig. Jemand brachte mich raus zu einer wilden Kirsche. Ich denke, es war meine Großmutter. Auf der Straße gegenüber dem Haus des Großvaters wuchs eine wilde Kirsche. Niemand hatte sie gepflegt. Jeder konnte Kirschen sammeln, aber keiner hat es getan, also trockneten die Kirschen direkt am Baum. Am Ende des Sommers kletterte ich gerne darauf, nahm getrocknete Kirschen und knabberte daran. Die Kirschen waren sehr süß. Jetzt stand ich unter der Kirsche und sah Großvater Anton zum Abschied zu. Leute gingen rein und kamen raus, jemand schluchzte sogar. Nachdem sie aus dem Hause kamen versammelten sich die Leute auf der Straße zu einem Trauerzug. Sie trugen den Sarg heraus, Musik begann zu spielen und die Prozession bewegte sich in Richtung Friedhof. Ich stand unter der Kirsche und sah zu wie sich Menschen hinter dem Sarg bewegten. Neben mir erschien ein Mann, der wie ich die Prozession beobachtete. Großvater Anton stand neben mir. Er hat mir etwas erzählt. Meine Übelkeit verging. Ich erinnere mich nur daran, wie er sich zu mir umdrehte, lächelte und sagte, er verstehe nicht, warum alle traurig sind. Ich wollte ihn fragen warum er hier ist und nicht dort. Aber er ging, wie er erschien. Danach hat mich meine Großmutter nach Hause gebracht und auf meine Frage, was mit Großvater Anton passiert ist, antwortete sie dass er gestorben ist.
Der Erhängte.
Es ist im Herbst passiert. Im Hof hörten alle auf zu spielen und rannten in den Waldgürtel hinter dem Nachbarhaus um den Erhängten zu beobachten. Michail und ich rannten auch hin um zuzusehen. Ich verstand nicht sofort, dass es ein erhängter Mann war. Ein Körper in gewöhnlicher grauer Kleidung hing an einem Kiefernzweig und ein Mann in einem weißen Anzug stand unter einem Baum. Er schloss die Augen mit den Händen und weinte. Dann fühlte ich, dass er sehr traurig war. Jetzt bin ich sicher, dass er bereute was er getan hatte. Es war ein Selbstmord. Warum er das tat weiß ich nicht. Ich fragte Michail, warum der Mann im weißen Anzug den Erhängten nicht rettet. Aber Michail verstand nicht welcher Mann am Baum stand. Er sah niemanden am Baum. Der Mann in Weiß schaute in unsere Richtung und als unser Blick sich traf wurde mir klar, dass er weiß, dass ich ihn sehe. Bald traf die Polizei ein. Der Erhängte wurde entfernt und die Polizei begann, das Publikum zu zerstreuen. Wir rannten zu unserem Hof zurück. In dieser Nacht wachte ich schreiend im Schlaf auf. In einem Albtraum war ein Mann in Weiß. Als ich meine Augen öffnete stand der Mann auf unserem Balkon und hinter ihm leuchtete der Vollmond. Er bat mich keine Angst zu haben und ihm zu helfen. Er bat mich, sich bei jemandem zu entschuldigen. Ich schrie noch heftiger. Dann kam Mama. Ich sagte ihr, dass ich den Erhängten gesehen habe und er auf unserem Balkon ist. Dies dauerte mehrere Nächte. Ein Mann kam und bat um Hilfe, ich wachte auf und schrie. Ich glaube der Zustand meiner Mutter war am Limit. Wir gingen zum Arzt. Der Arzt, außer dem Rat, dass ich sehr empfindlich wäre, hat nichts geraten. Die sowjetische Medizin ist die “fortschrittlichste” Medizin der Welt. In einem Beratungs-Land kann nur Beratung eingeholt werden. Meine Großmutter schloss sich dem Fall an. Großmutter hat eine Heilerin gefunden. Es war gut, dass sie nicht aus der Klinik war. Ihr Rat war wirksamer. Ich zog in ein anderes Zimmer. Das Mondlicht fiel dort nicht hinein und die Toten könnten mich nicht finden und würden weg gehen. Die Heilerin war so, so. Sich vor den Toten verstecken ? Na Ja, ich weiß nicht was davon geholfen hat. Der Tote hörte auf zu mir zu kommen. Wahrscheinlich war gerade die Zeit gekommen und die Seele des Toten verschwand.
Ich denke, dass die Wahrnehmung der Welt bei Kindern anders ist als bei Erwachsenen. Mit ungefähr 7 Jahren verlieren wir die Fähigkeit, den subtilen Körper eines Toten zu sehen. Als Kind hatte ich Angst nicht nur auf den Friedhof zu gehen, sondern auch in dessen Nähe zu laufen. Als ich älter als 7 Jahre war sah ich keine wirklichen “Besucher” mehr.
Entfernte Verwandte.
Bei Erwachsenen erfolgt die Kommunikation durch den dünnen Körper mit dem subtilen Körper der Toten auf unterschiedliche Weise. Durch prophetische Träume im Schlaf oder Visionen, ich nenne sie Bilder. Diese Bilder können statisch oder dynamisch sein. Bilder zu entziffern ist nicht immer einfach.
Ich war noch nicht 30 Jahre alt, als eine Frau in einem Traum zu mir kam. Sie nannte sich Heilerin, und sei eine Verwandte von mir und bat mich, es bei meiner Großmutter herauszufinden. Und sie sagte: “Beginne ein Gespräch mit 1000 Konserven”. Was ich später auch tat. Sie nannte mich einen Magus. Sie sagte, dass alles was ich anfange, gut sein wird. Sie zeigte mir einen Weg auf dem sich drei Frauen befanden und sagte, das sei mein Schicksal. Und sie hat mir auch eine Botschaft in den Kopf gesetzt. Ich habe sie noch nicht vollständig entschlüsselt. Magus? Google gab es noch nicht. Ich kannte so ein Wort damals nicht. Ich musste ein paar Bücher über Magie kaufen. Den Weg des Magus bin ich nicht gegangen. Noch nicht. Das Schicksal ist veränderlich. Ich sprach mit meiner Großmutter darüber, wer die Heilerin aus Osokorkiv ist und was 1000 Konserven bedeuten. Meine Großmutter wollte nicht antworten. Wie konnte ich über die Heilerin Bescheid wissen? Das ist überhaupt eine dunkle Angelegenheit! Es ist besser, dies zu vergessen. Ich sagte ihr, ich hätte einen prophetischen Traum. Worauf sie fragend antwortete: "Schon wieder?" Mir wurde klar, dass mir das schon öfter passiert sein muß. Meine Oma kannte mich besser als ich. Sie sagte, dass in unserer Familie eine Heilerin lebte, aber sie ist vor langer Zeit gestorben. Nach ihrem Tod wurden 1000 Konserven im Haus gefunden. Die Zeiten waren hart und sie nahm Essen für Gottesdienste mit. Konserven. 1000 gute Taten.
Bei drei Frauen ist meine Frage noch offen.
Engel.
Ich habe mehr als 30 Jahre in Kiew gelebt. Geboren im Krankenhaus Nummer eins. Aus Kiew ging ich wandern und kehrte nach Hause zurück. Ich habe viele sowjetische Städte besucht. Im Vergleich zu den Giganten Moskau und Leningrad kann ich zuversichtlich sagen, dass Kiew die wärmste und positivste Stadt ist.
Bei Ankunft in Moskau spüren Sie sofort das Zentrum der Macht und des Drucks. Kiew ist gemütlich und zahm. Es ist nicht umsonst, dass Kiew an diesem Ort gegründet wurde. Unter den Hauptstädten ist in Kiew die angenehmste geistige Atmosphäre. Man kann viel über Kiew schreiben und in Kiew sind viele Ereignisse passiert. Ich habe keinen besseren und geeigneteren Ort gefunden um die Begegnung mit einem Engel zu beschreiben. Da sind die Engel an der Grenze der Welten. Ich weiß nicht wie ein Engel aussieht, aber es war das angenehmste und schönste Wesen, das ich gesehen habe und von dem nur Freude kam. Jeder Mensch hat einen mentalen Körper - ein dünnes Ich. Jeder Mensch trägt astrale Projektionen in sich und sie sind nicht immer schön und gütig. Sie sind sichtbar, wenn man das dritte Auge trainiert. All diese Körper sind zu sehen. Ich sehe sie sporadisch, spontan, aber es kommt vor, dass ich sie kontrolliert sehen kann. Ich war mit der Frau Irina vertraut. Sie besuchte alle Arten von Kurse und Gruppen zum Thema Esoterik. Nicht ohne Erfolg. Ihr Sehen veränderte sich. Sie fing an, das Astrale immer im täglichen Leben zu sehen. Glauben Sie mir, dieser Anblick ist nicht der angenehmste. Die menschliche Psyche kommt damit nicht immer zurecht. Wenn Sie Menschen betrachten, die die Straße entlang gehen, und Sie Monster und alle bösen Geister sehen. Das Bild ist schlimmer als jeder Horrorfilm. Beim Astralen muss man sehr vorsichtig sein. Kommen wir zurück nach Kiew. Kiew ist so gut, dass man in der U-Bahn einen Engel treffen kann. Ja, mindestens einen. Warum denke ich so? Weil es unvergesslich und wunderschön war. Der Engel war gnädig zu mir und schenkte mir ein Lächeln. Es war um die Mittagszeit. Ich fuhr mit der U-Bahn von Endstation zu Endstation. Von Lesnaya nach Svyatoshino. Es war damals, als nicht immer Menschenmassen in der U-Bahn unterwegs waren. Am Bahnhof “Linkes Ufer” kam eine Frau mit einem Baby in den Wagon. Das Kind wollte etwas und schrie die ganze Zeit. Der Wagon war halb leer, niemand stand. Als wir die U-Bahnbrücke entlang fuhren, wollte ich einen Witz über Delfine im Dnjepr machen. Aber ich habe es nicht getan. Das Jammern des Kindes begann zu werden. An der Station Arsenalna stiegen Leute hinzu und alles im Wagon änderte sich. Der Geruch von Ozon breitete sich aus, es wurde frischer und heller. Das Kind verstummte und anstatt zu schreien, erschien ein Lachen. Ich hob den Kopf und schräg neben der Tür stand eine Frau, die Jodie Foster ähnlich sah. Um sie herum leuchtete es. Sie lächelte in meine Richtung. Sie hob einen Finger an die Lippen und bat nichts zu sagen. Wir fuhren zusammen drei Stationen zur Universitätsstation. Sie stieg dort aus. Dann erinnerte sich das Kind, dass es etwas wollte. Die Frische im Wagon war verschwunden. Ich ging zur Arbeit und konnte nicht verstehen, was passiert war. Warum zeigte sie mir den Finger am Mund und warum versteckte sie ihre Anwesenheit nicht für mich?
Alex.
Er hieß Alexander. Er bat darum, ihn Alex zu nennen. Ich bin daran gewöhnt und nenne ihn nicht anders. Alle nannten ihn Alex. Das Schicksal brachte uns in der Not zusammen. Seltsamerweise war es Geld. Wie das Sprichwort sagt, wo das Geld anfängt, endet die Freundschaft. Bei Alex war alles anders. Zuerst gab es Geld, dann gab es Freundschaft. Ich hatte mein eigenes Team für die Reparatur von Computerausrüstungen bei KPVTI (Kiewer West Computer Service). Wir waren gerade von der Straße “Abstieg des heiligen Andreas” nach Borshchagovka umgezogen. Es gab viel Arbeit, viele Kunden. Außerdem gab es immer einen Nebenjob. Ich brauchte Leute für Teilzeitjobs. Inbetriebnahme von Computernetzwerken. Über das Wochenende habe ich gut 200 Rubel bezahlt. Knapp 1 Monatsgehalt eines Arbeiters. Nach dem Unterricht an der Universität stellte ich mich vor die Gruppe und bot an, am Wochenende etwas Geld zu verdienen. Nur Leonid, ein Freund während meines Militärdienstes, meldete sich. Er und ich gingen an der Uni wieder gemeinsame Wege. Ein weiterer Partner wurde benötigt. Über das Wochenende musste gearbeitet werden. Leonid schlug einen Freund aus der Koroljow-Fabrik vor. Es war Alex. Mit Alex haben wir viele Teilzeitjobs gemacht. So begann unsere Freundschaft. Ich lockte ihn aus der Fabrik zu meiner Brigade. Im Vergleich zu Koroljow war das Gehalt um ein Vielfaches höher. Leonid zog sich von unserem Geschäft zurück. Er ging nach Israel um in einem Kibbuz zu arbeiten. Ein Jahr später kehrte er zurück und begann, sein Geschäft mit Handel von Lieferungen aus China aufzubauen. Wahrscheinlich beschäftigt er sich heute noch damit. Mit Alex habe ich sehr lange zusammengearbeitet. In meiner Freizeit war ich Bergsteiger und ging jeden Sommer für einen Monat in die Berge. Kaukasus, Pamir, Altai, Karpaten, Taiga. Dann begann die Wirtschaft in der Ukraine ins Nichts zu sinken. Es gab weniger Aufträge. Fabriken haben zu wenig Geld. Die Schulfinanzierung ist vollständig verblasst. Alex unternahm Reisen nach China und überflutete zusammen mit Leonid die Ukraine mit Spielekonsolen und allem möglichen anderen Unsinn. Gekauft billig, teuer verkauft. Irgendwann warf auch Alex mir einen Job zu. Bei einer meiner Reisen nach Elbrus fehlten mir Gefährten. Ich lud Alex ein mit mir zu kommen. Er war unter der Bedingung einverstanden, dass wir auf den Elbrus aufsteigen. Es war unser Plan. Ich hatte den Gipfel des Elbrus schon bestiegen, er noch nicht. Er wollte auch die Freude am Aufstieg erleben. Das Wetter hatte unsere Pläne geändert. Wir sind nicht an die Spitze gekommen. Aber Alex wurde von den Bergen angesteckt. Meine Familie und ich sind nach Deutschland gezogen. Mit Alex unterhielt ich nur unregelmäßige Korrespondenz. Es waren ein paar Ideen, ein gemeinsames Unternehmen zu gründen. Aber es hat nicht geklappt. Er freute sich über seine Erfolge und Geschichten, in welchen Bergen er unterwegs war usw. Anscheinend lief sein Geschäft gut. Er rief mich, mit in die Berge zu kommen, wie ich es früher tat. Mich hat der Beginn des Lebens in einem anderen Land viel Kraft und Energie gekostet. Deutsche Sprache, eine andere Mentalität. Ich versprach, dass ich versuchen würde mitzumachen, aber es gab immer andere Pläne. Kinder, Familie, Arbeit. Er lud mich aus Gewohnheit nach Tadschikistan ein und wusste, dass ich ablehnen würde. Wir haben uns gut verstanden. Er ist gegangen. Am Tag von Alex Tod wachte ich mit Tränen auf, ein Bild in meinem Kopf - Alex im Schnee. Mein Kopf schmerzte und ich hatte das starke Verlangen, ihn anzurufen. Ich war zu spät ans Telefon gekommen. Alex Frau, Lena, informierte mich, dass Alex tot war. Alex Gruppe wurde von einer Lawine überrollt. Vor kurzer Zeit als ich auf einem Stein saß und meditierte, sah ich sein gefrorenes Gesicht im Eis. Nach dem Tod von Alex wollte ich ihn finden und die Leiche nach Kiew bringen. Jetzt verstehe ich, dass dies nicht notwendig ist. Er traf seine Wahl. Sein Gesicht war völlig ruhig. Er wollte vor sich selbst davonlaufen und rannte davon. Schlaf gut, Freund. Niemand wird deinen Körper stören.
Olivia. Zwillinge.
Ich denke, es ist genug Zeit vergangen, um darüber schreiben zu können. Geheimnisse sind längst beseitigt. Die Vergangenheit ist nicht mehr die Gegenwart und wir haben aufgehört uns davor zu fürchten. Das Leben ist nur hier und jetzt möglich. Das Leben brachte mich zu sehr interessanten Menschen. Gegenseitiges Miteinander formte uns zusammen. Sie formten mich, ich formte sie. Einfach und kitschig. Mein Freund Oliver traf das Mädchen Olivia. Ich kenne nicht alle Details ihrer Bekanntschaft. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, dann war Oliver ein echter Enzyklopädist und half Olivias Sohn Robert mit Ukrainisch. Anscheinend war seine Hilfe für alle nützlich. Oliver und Olivia wurden ein Paar. Olivia ist eine sehr kleine Frau. Ich war immer erstaunt über die Größe ihrer Schuhe - 34. Beide lebten in Kiew Bezirk - Troieschyna, nicht weit vom Markt entfernt. So kam es, dass dort ein Zentrum unseres Freundeskreises in einer kleinen Einraumwohnung entstand. Wir waren alle Techniker im IT-Bereich. Liebhaber der “Die Chroniken von Amber”. Wir hatten sogar Kommunikationskarten gemacht. Die Überreste unserer Karten sind jetzt bei mir. Ich benutze sie sehr selten, um der Familie keinen Schaden zuzufügen. Ich denke, ich sollte ein separates Buch über diese wunderbare Zeit schreiben. Hier möchte ich nur über eine Episode schreiben. Wir hatten Themenabende. An diesem Abend sprachen wir über Handlesen. Wer glaubt der glaubt, wer nicht der nicht. Olivia glaubte nichts davon, nahm aber freudig an der hitzigen Diskussion teil. Ich lud sie ein, ihre Vergangenheit aus ihrer Hand zu erzählen. Wir wurden alleine gelassen. Ich nahm ihre Hand und ein Bild von Zwillingskindern kam zu mir. Ich fragte, wo ihr zweites Kind, Roberts Bruder sei? Ich habe das nicht von mir selbst erwartet. Was war los? Aber das Bild ist gekommen. Ich habe Olivia alles erzählt. Olivia war ratlos. Ich auch. Olivia hatte ihr zweites Zwillingskind verloren. Es gibt diese Handlesekunst. Die Grenze zwischen den Welten kann in deiner Hand liegen und du weißt nichts darüber. Wir haben das als Geheimnis zwischen uns gelassen. Aber jetzt ist es Zeit, darüber zu sprechen. Denn die Zeit ist stark beschleunigt. Die Ereignis-Spirale ist stark komprimiert.
Andrej
Andrej ist mein Arbeitskollege. Ich habe lange aufgehört, andere zu helfen oder zu behandeln. Es gibt viele Gründe für diese Entscheidung. Weil nichts bleibt unbemerkt. Du musst für alles bezahlen. Der Preis für die Abrechnung liegt nicht bei Dir. Manchmal kommt es vor, dass ich etwas heraus plaudere bei Wein in einer Runde, aber nicht mehr. Aber die Vergangenheit kann einen einholen und sich bemerkbar machen. Der Fall von Andrejs Bekanntschaft ist aus dieser Kategorie. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das Wetter in Berlin war diesen Sommer hervorragend. Fahrrad fahren ist eine Freude. Es war ein Freitag. Ich stieg die Treppe zu unserer Etage hoch und als ich den Korridor entlang ging, hörte ich wie Andrej Victor fragt, wie er eine Person per Telefonnummer oder GPS finden könne. Die Polizei sucht schon aber die Familie bekommt keine Informationen. Die ganze Familie ist auf der Suche nach ihrem Ernährer und mit den Nerven am Ende. Ich bin schon vorbei und stand kurz vor meiner Werkstatt. Aber etwas riss mich und ich kehrte zurück und schloss mich dem Gespräch an. Ich hörte die Geschichte von Andrej und bestätigte, dass für die Suche nach einem Telefon per Telefonzelle die Polizei der richtige Partner sei. Danach schlug ich eine andere Suchoption vor. Er möge mir ein nicht gewaschenes Hemd des Vermissten bringen. Eine halbe Stunde später war das Hemd in meinen Händen. Ich zog mich mit dem Hemd in die Küche zurück in der Hoffnung, dass nichts daraus werden würde, dass meine Fähigkeiten vergessen und verloren waren.
Das Gegenteil passierte. Früher empfand ich Kälte, wenn es um die Dinge der Toten ging. Diesmal ging keine Kälte vom Hemd aus. Und ich habe folgendes Bild bekommen. Ein Mann lag am Ufer des Kanals, ein Arm war in Richtung der Brüstung entgegen der Richtung des Wassers ausgestreckt. Der Mann rührte sich nicht und es fiel mir schwer zu sagen, ob er am Leben war. Ich konnte mit nichts anderem helfen außer diesem Bild. Ich beteiligte mich nicht an der Suche des Vermissten. Das Risiko für die eigene Gesundheit ist sehr groß. Drei Tage später wurde ein Mann am Fluss gefunden. Ich habe noch versucht, eine kleine Hilfe der Familie zu geben, den Speicher des Mobiltelefons wiederherzustellen. Aber leider war das Telefon vom Wasser völlig kaputt und der Speicher konnte nicht wiederhergestellt werden. Anscheinend wollte der Tote nichts über seine letzten Minuten mehr preisgeben.
Australier.
Dieser Sommer ist sehr ereignisreich. Ich habe angefangen wieder Tagesausflüge zu machen. Es passierte ist öfter, dass Bilder zu mir kamen. Die Bedeutungen, die muss ich erst noch erkennen. Ich habe das Gefühl, dass das Leben mir eine Wendung in eine unbekannte Richtung gegeben hat. Aber ich weiß, dass eine Veränderung für alle gut sein wird. Es geschah am letzten Sonntag im Mai. Ich ging zum Balkon um zu sehen, was im Mauerpark los war. Karaoke-Liebhaber begannen sich zu sammeln. Jede Woche singen Touristen aus ganz Europa in Park Karaoke. Jede Woche die gleichen Lieder, die gleichen schlechten Sänger aus verschiedenen Ländern. Sich daran zu gewöhnen ist nicht notwendig. Außerdem hören Sie mit der Zeit auf, eine gute von einer schlechten Stimme zu unterscheiden. Es waren keine Wolken am Himmel. Die sommerheiße Sonne schien mir direkt ins Gesicht. Ich schloss meine Augen um die Wärme und das Licht durch die Augenlider zu genießen. Mit den Lichtstrahlen kam ein Bild zu mir. Ich stand am Ufer eines Bergsees. Der See hatte eine unglaublich schöne Wasserfarbe. Es war in Österreich oder Australien. Ich weiß es nicht genau. Mit den Bildern ist es nicht immer einfach, einen Ort zu entziffern. Da sieht man nur einen kleinen Zeitraum. Und die Details des Ortes sind schwer zu wissen. Ich weiß, dass Los Lagos in meinem Kopf flog. Vor mir schwebte ein Floß. Ein Mann in Ranger Uniform stand auf dem Floß. Seine Form ähnelte eher dem eines Rangers aus Australien. Er trug einen typischen Rangerhut. Also ich denke es war in Australien. Er hatte eine Stange in der Hand. Er stieß sich vom Ufer ab. Hinter ihm schien die Sonne in meine Augen, genauso wie in Berlin auf meinem Balkon. Der Mann sah mich und lächelte in meine Richtung. Das Lächeln war breit und offen. Er winkte mir zu. Mir wurde klar, dass es ihm gut ging. Ich weiß, dass er tot ist. Ich muss dieses Lächeln und die Begrüßung vermitteln und sagen, dass alles in Ordnung ist.
Die Linie zwischen den Welten ist sehr schmal. Die Angst vor den Toten ist ein Relikt des Mittelalters. Jeder von uns hat mehr Freunde dort als hier. Ich schreibe über wahre Freunde. Die Toten können euch gar nichts Böses anhaben, auch wenn Sie Feinde waren. Weil Tote haben keine Möglichkeit etwas zu tun, weil Tote haben keinen Körper und haben keinen Zugang zu uns. Die Toten können nicht lügen. Davon bin ich überzeugt.
14/09/2013. Nerja.
©Andrew Buckin.